Hildesheim - „Lehrer aller Schulformen können davon ein Lied singen. Die zunehmenden unterschiedlichen Aufgaben, die von Kultusminister und Schulbehörden in die Schule getragen werden, fordern Lehrer und Schulen seit Jahren über ihre Belastungsgrenzen hinaus.“ sagt Heinrich Kalvelage, Direktkandidat der FREIEN WÄHLER in Hildesheim. 'Während sich die Bildungspolitiker der Regierungsparteien mit immer weiter steigenden Abiturientenzahlen und mit immer besser werdenden Noten schmücken, ächzen die Schulen unter der immer schlechter werdenden Personalsituation. Die am Ende Leidtragenden sind die Schülerinnen und Schüler. Die Klassenstärken liegen oft an der Obergrenze, zu kleine Klassen werden immer wieder aufgeteilt, Förderangebote fehlen und die Oberstufenkurse platzen aus allen Nähten oder können gar nicht erst angeboten werden“.
Doch der bisher eingeschlagene Weg, die Lage zu verbessern, geht immer weiter in die falsche Richtung. Das alles hilft nur scheinbar, mittelfristig verstärkt es die Unterrichtskrise. Das vor den Ferien gestartete niedersächsische Konzept zur Lehrergewinnung liest sich daher nicht als Versuch pragmatischen Krisenmanagements, sondern stellt sich als Bankrotterklärung einer seit Jahren verfehlten niedersächsischen Bildungspolitik dar.
Das „Lehrkräfte-Gewinnungspaket“ des niedersächsischen Kultusministers Grant Hendrik Tonne, mit dem er unmittelbar vor den Sommerferien auf die erheblichen Defizite in der Unterrichtsversorgung reagiert hat, war erwartungsgemäß ein Schlag ins Wasser. Niedersachsen wird im Schuljahr 22/23 mit 97,4 Prozent auf die schlechteste Unterrichtsversorgung seit 19 Jahren zugehen. Wer angesichts dieser Zahl nicht alarmiert ist, vergisst, dass Vertretungen für z. B. krank gewordene Kollegen darin nicht enthalten sind, ebenso Ersatz für Mutterschutz, Dauererkrankungen oder Behördenabordnungen. Mit anderen Worten: Mehr als 10 Prozent des regulären Unterrichts fallen an niedersächsischen Schulen ersatzlos aus, während die Lehrer mehr und mehr Überstunden von einem Schuljahr zum anderen vor sich herschieben. Zudem gab es im Schulleitungsbereich in den vergangenen zehn Jahren eine Verdoppelung der administrativen Aufgaben. Einen Ausgleich dafür gab es nicht.
Nun aber räumt Minister Tonne in einem Brief an die niedersächsischen Eltern ein, dass Ursachen in Entwicklungen liegen, „die in Umfang und Ausprägung noch vor wenigen Monaten niemand vorhersagen konnte“. „Das stimmt aus der Sicht der Schulen schlicht und einfach nicht.“, betont Kalvelage. Die ministerielle Erkenntnis, dass die Decke der Unterrichtsversorgung zu kurz sei, das sei den Lehrkräften schon aus der täglichen Arbeit seit langem bekannt.
Vergleichsweise hilflose Maßnahmen wie fehlendes Personal für die Ganztagsbeschulung durch eine einseitige Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung in den Gymnasien zu gewinnen, ist schon vor Jahren krachend vor dem Oberverwaltungsgericht abgeschmettert worden. Also wurden in jedem Schuljahr Abordnungen in hohem Umfang vorgenommen, um die schlimmsten Defizite zumindest vor Ort auszugleichen.
Kalvelage beurteilt die aktuellen Maßnahmen kritisch. Der Versuch, mehr Unterrichtsstunden durch Appelle zur Aufstockung von Teilzeitverträgen und Mehrarbeit über Sonderarbeitszeitkonten zu generieren, geht an der Schulwirklichkeit vorbei. Pensionierte Lehrkräfte durch finanzielle Anreize für begrenzte Zeit zurückzuholen, ist auch keine Lösung für strukturelle Probleme
Der zweite Teil des Konzeptes, mehr Lehrkräfte von außen zu gewinnen, birgt auch erhebliche Risiken. Denn Qualifikationsanforderungen sind in einem System, das fachliche und soziale Kompetenzen zu gleichen Teilen erfordert, von erheblicher Bedeutung. Maßnahmen wie z.B. durch Erleichterung der Zugangsbedingungen für Quereinsteiger, finanzielle Anreize und Aussetzen von administrativen Einstellungsvorgaben, aber auch durch Anwerben von Absolventen eines gymnasialen Studiums für Grund- und Hauptschulen bringen auch keine dauerhafte Entlastung.
Kalvelage hat wenigstens einen positiven Aspekt parat: Immerhin werden die Klassengrößen vorerst nicht angehoben. Aber ob das so bleibt, da ist er auch nicht sicher.